Samstag, 7. März 2015

Woher kommt der Neid des Kassenpatienten?

Sie können sich einen Sechszylinder kaufen, erster Klasse fliegen oder die sprichwörtlichen goldenen
Wasserhähne installieren - alles kein Problem. Aber wenn Sie einem Kassenpatienten erzählen, dass Sie privat krankenversichert sind, dann treten Sie damit schnell eine gewaltige Neiddebatte los.

Ich habe mich lange gefragt, warum das wohl so ist - und vielleicht eine Antwort gefunden.


Wenn im Freundes- oder Kollegenkreis das Thema Krankenversicherung aufkommt, dann werde ich meist schnell ganz still. Ich möchte niemanden anlügen, aber es soll auch keiner wissen, dass ich privat versichert bin. Da ist Schweigen eine gute Strategie.

Zu oft habe ich schlechte Erfahrungen damit gemacht, wenn jemand - meist durch Zufall - herausgefunden hat, dass ich Privatpatient bin. Einmal habe ich die Zeichnung des sogenannten vitruvianischern Menschen  von Leonardo da Vinci nicht sofort erkannt. "Dann bist du privat versichert" schrie mir eine Bekannte entgegen. Denn da Vincis Mann ist auf jeder Versichertenkarte eines Kassenpatienten abgebildet.

Der Ton ihres Ausrufes war derart vorwurfsvoll, als würde sie mir unterstellen: "Du isst kleine Kinder - jeden Tag eins zum Frühstück! Ich habe es gesehen!!!" Und das war noch eines der harmloseren Erlebnisse. Gängig ist, dass mir gesetzlich Versicherte ohne erkennbaren Anlass erzählen, wie schlecht sie von Ärzten behandelt werden, wie lange sie auf Termine warten müssen und wie mies der Service im Krankenhaus ist. Das alles immer mit dem Unterton, dass es eben unsolidarische (oder sagen wir gleich: asoziale) Privatpatienten gibt, welche die Termine wegschnappen, die Zeit der Ärzte über Gebühr und auch noch bevorzugt in Anspruch nehmen und im Krankenhaus selbstverständlich das schönste Zimmer blockieren.

Dieser Mischung aus Neid und Wut ist ein eigenartiges Phänomen. Es ist ja nicht so, dass in anderen Bereichen unserer Gesellschaft die perfekte Gleichheit herrschte. Das wird auch gar nicht angestrebt. Weder fordern Parteien den Bau des Einheitsautos für Jedermann, noch die Errichtung von Einheitshäusern oder das Tragen einheitlicher Kleidung. Jeder kann kaufen was er will und soviel sein Geldbeutel her gibt. Bei der Krankenversicherung aber gilt das nicht, sie ist hoch politisch und im Bundestag gibt es gar eine Mehrheit für die Einheitsversicherung.

Nun könnte man einwenden, dass die Gesundheit eben wichtiger ist als die Frage, welches Auto man fährt. Da kann es um Leben und Tod gehen. Aber das greift zu kurz, denn die Frage, wie man versichert ist, ist gerade keine von Leben und Tod. Es ist nicht so, dass der Kassenpatient vor sich hinsiechend in der Gosse liegt, während der Privatpatient sich in die Obhut des Chefarztes begibt. Sicher gibt es Unterschiede, aber Einzelzimmer retten keine Leben, und wegen Amalgam-Zahnfüllungen statt Kunststoff muss niemand verhungern, weil er nicht mehr kauen kann. Es geht - wenn man die Toptarife der Privaten mit der gesetzlichen Krankenkasse vergleicht, um etwas mehr oder etwas weniger "Luxus", aber nicht um Leben oder Tod.

Es ist im Grunde wie bei der Bahn: Man kann erster oder zweiter Klasse fahren. Es ist eine Frage des Komforts - und es Preises, den man bereit ist zu entrichten. Aber der Unterschied ist nicht essentiell: Sitzplätze gibt es überall, und man kommt gleichzeitig am selben Ziel an. Ich habe noch nie erlebt, dass Bahnkunden, die erster Klasse reisen, stigmatisiert, angepöbelt oder ausgegrenzt werden. Und keine im Bundestag vertretene Partei fordert die Abschaffung der 1. Klasse.

Was ist so anders bei Privatpatienten? Die zahlen im Durchschnitt deutlich mehr für ihre Versicherung als Kassenpatienten (individuell, aber auch weil es keine kostenlose Mitversicherung für Kinder oder Ehepartner gibt), und bekommen dafür etwas mehr Luxus wie schnellere Termine, kürzere Wartezeiten, klimatisierte Warteräume. Kassenpatienten haben hingegen das deutlich bessere Preis-Leistungs-Verhältnis, ähnlich wie in der 2. Klasse bei der Bahn.

Der Unterschied zwischen der Bahn und der Krankenversicherung ist, dass es jedem per Gesetz frei steht, erster Klasse zu reisen. Wer den höheren Fahrpreis zahlen kann, und wer denkt, dass es ihm das zusätzliche Geld auch wert ist, der macht es eben. Die gesetzliche Krankenversicherung ist hingegen für die meisten Versicherten ein Zwangssystem.

Nur Selbstständige, Studenten, Privatiers und Beamte haben die Wahl, wie sie sich versichern wollen. Angestellte - und das sind die weitaus meisten Beschäftigten - hingegen dürfen erst dann, wenn sie oberhalb der Versicherungspflichtgrenze verdienen (2015 lag sie bei 54.900 Euro) in die PKV wechseln. Für die meisten Menschen ist die private Krankenversicherung im Sinne einer Vollversicherung damit unerreichbar. Man muss quasi einer privilegierten Gruppe angehören, um sich privat zu versichern. Das Erster-Klasse-Ticket bei der Bahn kann hingegen jeder lösen, der genug Geld auf den Tisch legt.

Wer den Neid und den Unmut gegenüber Privatpatienten beseitigen will, der muss die Zugangsvoraussetzungen zur privaten Krankenversicherung ändern. Jeder, der sich privat versichern will, sollte es tun dürfen, egal ob er Arbeitnehmer oder Selbstständiger ist, ob verbeamtet oder angestellt.

Für die meisten gesetzlich Krankenversicherten wäre ein leistungsstarker Tarif in der privaten Krankenversicherung deutlich teurer als ihre derzeitige Kasse. Sie würden daher meist in der GKV bleiben. Aber weil sie jederzeit wechseln könnten, wenn sie es denn wollten, würde der Neid vermutlich verschwinden. Die private Krankenversicherung wäre kein (gänzlich unverdientes) Privileg kleiner Gruppen mehr, sondern eine Option, die allen offen stünde, so wie die erste Klasse der Bahn.

Freilich kann man nicht einfach die private Krankenversicherung für alle frei geben und sonst  alles beim Alten belassen. Es sollte auf jeder Seite des Systems zumindest eine gewichtige Änderung geben. Bei der gesetzlichen Krankenversicherung dürften die Beiträge nicht länger einkommensabhängig sein. Denn dadurch ensteht für Besserverdienende, die viel in die GKV zahlen müssen, ein Anreiz zu wechseln, während Geringverdiener alle in der GKV blieben. Den gesetzlichen Kassen gingen so die besten Beitragszahler verloren und sie kämen in Finanznöte. Bei einer einkommensunabhängigen Kopfprämie wäre das anders. Sozial Schwache müssten dann einen Zuschuss aus Steuermitteln erhalten.

Und auf Seiten der privaten Krankenversicherung sollte ein höherer Mindeststandard gesetzlich festgeschrieben werden. Sonst besteht die Gefahr, dass Millionen Geringverdiener in Billigtarife wechseln, um zu sparen, dann aber deutlich schlechter versichert wären als derzeit in der gesetzlichen Krankenversicherung.

Die Änderungen sind nicht so groß, dass sie nicht umzusetzen wären. Durch eine Freigabe der PKV könnte man den Anhängern einer gesetzlichen Einheitskasse politisch den Wind aus den Segeln nehmen und Wahlfreiheit für alle sicherstellen.

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